Vielleicht kennen Sie das: Das Aussehen unterliegt gewissen Tagesformschwankungen. Ich für meinen Teil jedenfalls habe gute Tage und weniger gute. An den weniger guten sehe ich aus, als wäre ich mein eigener hässlicherer Zwilling. Oder wie die böse Riesenmade Jabba the Hutt. Und an diesen Tagen hasse ich Greta. Greta (Name geändert), eine liebe Freundin von mir, ist geradezu der Prototyp des Beautiful Best Friend (BBF). Sie ist blond und gross gewachsen und hat vor kurzem ein entzückendes blondes Kind auf die Welt gebracht, worauf sie augenblicklich wieder einen Taillenumfang von 29 Inches annahm. Manchmal, wenn ich mit Greta am Samstag Nachmittag die Zürcher Bahnhofstrasse hinunterlaufe, weil sie ihren Bonus bei Louis Vuitton ausgeben möchte, sehen wir aus wie die perfekte Familie. Das ist natürlich ein Trugbild, wie jeder hübsche Anblick, aber was soll’s, die Leute drehen sich um und wollen so sein wie wir. Und manchmal – sehen wir aus wie Ann Darrow und King Kong mit Kinderwagen. Das kann sehr niederschmetternd sein, und das einzige, was mich dafür entschädigt, sind die Tage, an denen ich prächtig aussehe und Greta aussieht wie meine rumänische Cousine, die nachts in der Kugellagerfabrik arbeitet. Natürlich würde ich ihr das nie sagen. So wie ich selbst nur Freunde habe, die mir immer sagen, wie wundervoll ich aussehe.
Und jetzt kommen wir zu Samantha Brick. Sie haben sicher, geschätzte Leser, die Geschichte mit Samantha Brick gehört. Frau Brick, die perfekt zu diesem Namen passt, hat sich unlängst in einem Online-Beitrag für die «Daily Mail» darüber beklagt, dass ihre Geschlechtsgenossinnen (also: Frauen) sie schlecht behandeln würden, weil sie, Samantha Brick, so gut aussähe. Und während ihre «pleasing appearance» ihr diverse Aufmerksamkeiten vom männlichen Teil der Bevölkerung sichere, so Mrs. Brick, würden Frauen eifersüchtig und missgünstig reagieren und sie überall behindern: im Beruf, in der Gesellschaft, you name it. Frauen würden sich sogar nicht einmal zusammen mit ihr fotografieren lassen, weil sie neben ihr, Samantha, nicht zur Geltung kämen. Und Frau Brick zieht den Schluss: «Unfortunately women find nothing more annoying than someone else being the most attractive girl in a room.»
Soweit Sammy. Und darauf wurde sie gesteinigt. So würde sie das wahrscheinlich ausdrücken. Jedenfalls erhob sich ein weltweiter Sturm der Entrüstung und entlud sich beispielsweise in Tausenden von Kommentaren auf der Seite der «Daily Mail» oder via Twitter oder übers ganze Interweb. Kommentare, von denen nicht wenige darauf verweisen, dass Frau Brick durchaus nicht umwerfend, sondern eher so naja-dankeschön aussähe. Ich bin ehrlich gesagt immer noch nicht sicher, ob das Ganze nicht doch eine Art Scherz war (und damit bin ich nicht allein). Denn in der Tat war Samantha Bricks recht schlicht geschriebene Story begleitet von ziemlich schlechten Fotos, auf denen eine recht schlicht aussehende Frau ziemlich peinlich posiert. Die Bilder verraten nicht nur die Abwesenheit jeglicher Selbstironie, sondern überhaupt eine klischierende Kleingeistigkeit, lower middle class mit einem Schlag ins Ordinäre, und dergestalt ist auch das Rollenverständnis, das aus Frau Bricks Ausführungen spricht: Eva Herman aus Birmingham.
Gibt es eine Pretty Penalty?
Aber trotzdem muss man sich die These ansehen. Haben hübsche Menschen mit Benachteiligungen und Anfeindungen durch missgünstige Mitgeschöpfe zu kämpfen, d. h. gibt es tatsächlich sowas wie eine «Pretty Penalty»? Der allgemeine Konsensus scheint ja eher vom Gegenteil auszugehen: Hübsche Menschen haben es leichter. Es existieren Studien, die nachweisen, dass attraktive Menschen mit höherer Wahrscheinlichkeit mehr Geld verdienen, tiefere Zinsen zahlen und einen attraktiven Partner finden. OK. Aber was ist mit wirklich schönen Menschen? Sind Models wirklich einsam, weil sich niemand traut, sie anzusprechen? Durch puren Zufall lief ungefähr zur Zeit der Brickschen Tirade ein Stück im «Economist», das sich damit befasste, wie sich körperliche Attraktivität auf dem Arbeitsmarkt als Handicap auswirken kann. Und zwar nur für Frauen, nicht für Männer. Und zwar nicht, weil hübsche Frauen für dumm gelten würden, sondern weil Personalabteilungen ihrerseits überwiegend weiblich besetzt sind. Und missgünstige HR-Damen die gutaussehenden Bewerberinnen systematisch blockieren. Das würde genau das stützen, was Samantha Brick sagt. Und dazu passt ebenfalls die bereits vor ein paar Jahren bekannt gewordenen Studie der University of South Australia, nach der sich vor allem junge Kundinnen in Geschäften regelmässig von Verkäuferinnen abschrecken lassen, die sie als schöner einschätzen als sich selbst. Diese Ergebnisse spiegeln die sogenannte soziale Vergleichstheorie wider, nach der Menschen ihr Selbst durch den Vergleich mit anderen verorten. Ein Aufwärtsvergleich mit Personen, die als attraktiver und damit als sozial überlegen wahrgenommen werden, kann demnach Angst und Vermeidungsverhalten auslösen. Für die Verkaufssituation bedeutet das: Auf Wiedersehen. Genauer: Auf Nimmerwiedersehen. Bianca Price, jene Doktorandin, die 2009 besagte Studie durchführte, wurde zitiert mit den Worten: «Frauen sind von Natur aus konkurrierend – wenn sie eine andere Frau als direkte soziale Bedrohung wahrnehmen, kann dies ihr Verhalten in dieser Situation beeinflussen.» Auch das scheint genau auf der Linie von Samantha Brick zu liegen.
Das Problem des ständigen Attraktivitätswettbewerbs, in der Fachsprache Body Competition (BC) genannt, ist natürlich im Verhältnis zu Angehörigen des eigenen Geschlechts immer gravierender, und dies gilt inzwischen für Männer nicht weniger als für Frauen. Viele heterosexuelle Männer sind heutzutage schon so weit, dass sie das können, wozu Frauen und Homos seit Anbeginn der Zivilisation imstande sind, nämlich den Attraktivitätsgrad ihrer Geschlechtsgenossen akkurat zu taxieren. Das macht mich nachdenklich. Schon als Kind habe ich mich nämlich für die jährlichen Klassenfotos in der Grundschule immer neben den Klassendicksten gestellt, um noch besser zur Geltung zu kommen. Ausserdem habe ich zum Beispiel bei meinem Zahnarzt extra auf meiner Karteikarte notieren lassen, dass meine Dentalhygienikerinnen nicht älter als 35 sein dürfen. Bin ich ein Monster? Possibly. Aber was mache ich dann am besten an jenen Tagen, wo ich auch so aussehe? Es gilt ja in unserer attraktivitätsfixierten Wellnessgesellschaft als erstrebenswert, viele hübsche Leute zu kennen – doch das kann wie eingangs gezeigt problematisch werden, an Tagen, an denen man selbst nicht gerade umwerfend aussieht. Was also kann man tun? Es kann ja nicht darum gehen, sein ganzes Leben umzukrempeln und nach Deutschland zu ziehen oder sonst wohin, wo hochwahrscheinlich nicht viele gut aussehende Menschen rumlaufen. Es geht nur um kleine Fluchten aus dem gnadenlos schönen Alltag, um das gelegentliche Risiko von akuter Body Image Depression (BID) zu minimieren. Ich bin überzeugt, dass das karitative Engagement von so hübschen Leuten wie Sharon Stone oder Brad Pitt nicht zuletzt aus dem Verlangen gespeist wird, dem ständigen Attraktivitätswettbewerb eine Zeit lang aus dem Weg zu gehen (OK, Brad Pitt wird natürlich ausserdem von der verrückten Angelina zu diesem ganzen karitativen Zeug gezwungen). Natürlich wäre es ein wenig zynisch, nur aus diesem Grunde Reis zu verteilen in den Strassen von Kalkutta (obschon dies den Reisempfängern vernünftigerweise egal sein dürfte). Obendrein muss man sich da gegen die aggressiven Betschwestern aus dieser Gang von Mutter Theresa durchsetzen, die das als ihr Revier betrachten. Welche anderen Möglichkeiten tun sich also auf? Der Besuch von Schönheitsfarmen oder Diätcamps, nur um endlich mal der Schönste oder die Schlankeste zu sein, ist ebenfalls keine sichere Variante, nicht zuletzt weil auch in diesen Einrichtungen, jedenfalls wenn sie teuer sind, mindestens das Personal regelmässig schön und schlank ist. Die nächstbeste Lösung, nämlich ein kurzer Gefängnisaufenthalt, ist hingegen mit verschiedenen anderen Nachteilen verbunden – denken Sie nur an die strikten Ruhezeiten in westeuropäischen Haftanstalten.
Die Schönheit der anderen
Sie sehen, es ist gar nicht so einfach, hübschen Menschen systematisch aus dem Weg zu gehen. Aber es ist, zum Glück, auch nicht unmöglich. Einigermassen sichere Varianten sind zum Beispiel Games Conventions und Buchhandlungen, besonders die Lebenshilfeabteilungen bzw. die Ecke, wo die Werke von Susanne Fröhlich verkauft werden. Und das bringt uns auf die naheliegende Rettung: Kultur. Beziehungsweise ihr Gegenteil, nämlich der gesamte so genannte Kulturbetrieb, denn der ist zumindest in Mitteleuropa anerkannterweise eine hartnäckige Oase menschlicher Unattraktivität. Um nicht zu sagen: grotesker Abscheulichkeit. Plötzlich, während ich dies niederschreibe, wird mir klar, dass gerade darin wahrscheinlich einer meiner Hauptantriebe besteht, Bücher zu verfassen: Ich kenne niemanden, der nicht an seinem schlimmsten Tag immer noch meilenweit besser aussehen würde als Denis Scheck. Danke, Denis!
Aber damit will ich nicht schliessen. Sondern mit einer anderen Moral: Nobody wants to hear pretty people complain about being pretty. Das einzige, was noch schlimmer ist als wenn hübsche Leute sich über die Nachteile ihrer Attraktivität beklagen, ist: wenn nicht-hübsche Leute dies tun.
Der Beitrag Können Sie schöne Menschen aushalten? erschien zuerst auf Blog Magazin.